Montag, 10. August 2015

Mein Weg mit Winnetou - Gedanken zum Tod von Pierre Brice

Winnetou ist tot. Mittlerweile sogar schon öffentlich betrauert und beigesetzt. Eine Nachricht wie der donnernde Klang der Silberbüchse, die ob des gehobenen Alters von 86 Jahren zwar kein ungläubiges Entsetzen auslöst, aber jedenfalls genug stille Wehmut. Dies soll kein Nachruf auf den Schauspieler Pierre Brice sein, so wie er aus diesem traurigen Anlass in großer Zahl durch die Medien geisterte. sondern eine persönliche Betrachtung meines Wegs mit Winnetou, dieses so stillen, sanftmütigen, geheimnisvollen wie für die Gerechtigkeit kämpfenden Indianers, der mehr ein Idealbild als wirklicher Native American ist.

Winnetou begleitet mich nun schon fast mein ganzes Leben lang. Ich konnte gerade so einigermaßen sprechen, als ich in Begleitung meiner Eltern 1986 das erste Mal Segeberger Kalkberg-Luft schnupperte. Damals lief „Halbblut“ in der Inszenierung von Klaus Hagen Latwesen.
Bald darauf ging es mit den legendären Kinofilmen los. Die gab es auf Videokassette, mühevoll aufgezeichnet im Fernsehen durch meinen Vater auf einem für damalige Verhältnisse recht teuren VHS-Rekorder. Und so saß ich dann oft tagelang nachmittags nach dem Kindergarten vor der Glotze und zog mir in endloser Wiederholung Pierre Brice, Lex Barker, Ralf Wolter und Co. rein.


Bad Segeberg 1986 "Halbblut"

Bis 1990 ein erster Höhepunkt folgen sollte: das erste Zusammentreffen mit meinem Idol, der Mutter aller Indianer – Winnetou Pierre Brice. Wieder einmal im Sommerurlaub in Bad Segeberg, diesmal das Stück „Winnetous letzter Kampf“, eine Inszenierung von Winnetou III, mit Pierre Brice, der von 1988 bis 1991 seine Paraderolle in der Kalkberg-Arena gab, nachdem er zuvor schon in den 70er Jahren in Elspe als Winnetou zu sehen gewesen war.
Freilich machte die Inszenierung mächtig Eindruck auf mich. Wenn man kurz vor seinem sechsten Geburtstag steht, fürchtet man sich noch richtig vor dem Bösewicht (damals von gelungen verkörpert von Manfred Reddemann) und geht ganz auf in dem naiven Bühnenzauber eines May-Stückes. Als gegen Ende der Applausordnung Pierre Brice noch einmal an den Zuschauern vorbei ritt, stellten meine Eltern mich auf die Brüstung, von wo ich mich sehnsuchtsvoll meinem Idol entgegenstreckte. Brice ließ sich von mir umarmen – und ich wollte meinen Winnetou gar nicht mehr loslassen. Bis der große Winnetou mir einen unschuldigen Kuss aufdrückte, ganz genauso, wie sich Winnetou und Old Shatterhand in Mays Erzählungen oft begrüßten. Man kann jetzt natürlich spekulieren, inwiefern mich dieses Ereignis für mein bisheriges und jetzt noch folgendes Leben geprägt hat.

Jedenfalls begann ich etwa 1994 mit der Lektüre der Texte in der klassischen grünen Ausgabe der Gesammelten Werke des Karl-May-Verlags, von denen ich bis Ende der 90er Jahre gut 50 Bände verschlungen habe. 1997 gab es einen Familienurlaub in Sachsen, der uns in das Karl-May-Museum in Radebeul und in Karl Mays Geburtshaus in Hohenstein-Ernstthal führte. 1998 bin ich selbst das erste Mal in Sachen Karl May aktiv geworden: für eine Vereinsfeier habe ich das selbstverfasste Stück „Weihnacht im Wilden Westen“ frei nach Figuren Karl Mays auf die Bühne gebracht, zusammen mit meinem Bruder Philipp als Old Wabble und mir als Dicker Jemmy.
1999 kam ich dann im Zuge eines Sommerurlaubs dann endlich wieder nach Bad Segeberg, wo Pierre Brice für die Inszenierung „Halbblut“ die Regie übernommen hatte. Dort traf ich den „Chefindianer“ bei einer Autogrammstunde im Indian Village des Kalkberg-Geländes. Als ich an der Reihe war, kam die Besucherschlange kurzfristig ins Stocken, aber Brice ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen.






Im Übrigen bin ich seit 1999 regelmäßig jedes Jahr in Bad Segeberg, um mir die aktuelle Aufführung anzusehen und mich mit Darstellern sowie Ekkehard Bartsch, Segebergs wandelndem May-Lexikon, auszutauschen. Seit 2002 spielte ich in privaten, d.h. nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Kurzfilmen nach Motiven von Karl May, die ein Freund zum Vergnügen produzierte; später zeichnete ich auch selbst für Drehbuch und Regie in diesen Filmen verantwortlich.
2004 sollte ich mein Idol noch ein drittes und letztes Mal treffen. Anlässlich der Veröffentlichung seiner Autobiografie „Winnetou und ich“ weilte Brice in meiner Heimatstadt Ulm, wo ich mir selbiges Buch bei einer Autogrammstunde meiner Stammbuchhandlung signieren ließ. Damals sah man ihm das Alter schon an, aber die Aura, die diesen Mann umgab, war immer noch von immenser Faszination.




Jahre später, ich hatte an der Universität Augsburg meine akademischen Lehrer allzu oft mit Winnetou und Co. genervt und mich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandergesetzt – u.a. habe ich als lehrbeauftragter Dozent ein literaturwissenschaftliches Proseminar zum Thema Karl May als Medienstar unterrichtet – habe ich mich 2012 mit dem Kurzfilm „Das Silbersee-Projekt“ filmtechnisch unabhängig gemacht. Ich schrieb, inszenierte und spielte zusammen mit einem tollen Laienteam eine May-Hommage, die dann auch jeder im Internet auf Youtube wahrnehmen konnte und kann. Ein weiteres geplantes May-Projekt musste dann aber erstmal auf Eis gelegt werden.




November 2013 wurde ich erfolgreich für die Rolle der Tante Droll gecastet, die ich im letzten Jahr in der Inszenierung „Winnetou und der Schatz im Silbersee“ bei den neu gegründeten Festspielen Burgrieden vors Publikum brachte. Ich hatte ja schon lange den Wunsch gehegt, einmal in Bad Segeberg mitzuwirken und hier bot sich nun die Gelegenheit, an der Seite von Winnetou gegen das Böse zu kämpfen.
Unser Winnetou hieß Alexander Baab, war nur ein Jahr älter als ich, aber ein engagierter und talentierter Schauspieler, der nicht nur dem jungen Pierre Brice äußerlich ein wenig ähnelte, sondern auch mit dem selben Herzblut in diese Rolle schlüpfte, nein, den Winnetou sogar lebte. Es war eine fruchtbare Zusammenarbeit, aus der ich viel mitnehmen konnte. In der vorletzten Szene des Stücks begrüßte mich Winnetou immer mit einem fast nur angedeuteten würdevollen Nicken des Kopfes – selten war ich einem Winnetou näher. Fairerweise muss ich an dieser Stelle nachschieben, dass ich ebenso von meinen vielen anderen Bühnenkollegen lernen oder mich wenigstens mit ihnen austauschen konnte. Darüber zu berichten ist Aufgabe eines anderen Textes.




Pierre Brice mag vielleicht gestorben sein, aber Karl Mays Idee des edlen Apachen-Häuptlings lebt weiter. Auf vielen Freilichtbühnen, bald vielleicht sogar wieder in neuen Verfilmungen. Wie kein anderer hat Brice in der öffentlichen Wahrnehmung diese Figur geprägt, aber immer wieder wird Winnetou von neuen Darstellern zum Leben erweckt und das macht Hoffnung. Über kurz oder lang werde ich mich selbst wieder mit einer neuen Low-Budget-Produktion diesem Mythos annähern und sicher auch zu gegebener Zeit wieder auf einer Freilichtbühne in Sachen Karl May in Aktion sein.

Stunden später beim Spaziergang, Martin Böttchers kongeniale Winnetou-Melodien auf den Ohren, fließen dann endlich die Tränen. Manchmal muss ein Mann auch weinen dürfen.

Gewidmet 
Pierre Brice (1929-2015, der unvergessen bleiben wird)
 Alexander Baab (der hoffentlich noch lange leben und spielen wird) 
 Winnetou (der immer leben wird)